„Menschen werden in Flüchtlingscamps psychisch krank gemacht“
Dr. Monika Gattinger-Holböck ist klinische Psychologin und Psychotherapeutin und arbeitete bis zu ihrer Pensionierung am Klinikum Salzburg. Seitdem engagiert sie sich für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in den Krisengebieten der Welt und war unter anderem in Pakistan, Sierra Leone, dem Irak und Griechenland im Einsatz. Auf der griechischen Insel Lesbos betreute sie zuletzt mitten in Europa Flüchtlinge, denen unter „menschenunwürdigen Lebensbedingungen“ jede Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit genommen wird.
Mit diesem Interview startet die neue BÖP-Interview-Reihe „Psychologie persönlich“, die in unregelmäßigen Abständen Persönlichkeiten der Psychologie vorstellen wird. Vorschläge zu InterviewpartnerInnen gerne an unsere Leiterin PR & Kommunikation Dana M. Müllejans, MA (muellejans@boep.or.at).
Frage: Dr. Monika Gattinger-Holböck, wieso sind Sie Psychologin geworden? Gab es ein entscheidendes Ereignis, warum Sie sich für das Studium entschieden haben?
Dr.in Monika Gattinger-Holböck: Anfangs war es wirklich mehr ein Zufall. Ich wusste erst nicht genau, was ich machen will. Ich habe dann einfach Psychologie in Salzburg inskribiert, weil es interessant gewirkt hat und die Psychologie hat mich dann zunehmend interessiert und fasziniert.
Frage: In welchen Bereichen haben Sie im Laufe Ihrer Karriere gearbeitet?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Unter anderem in Jugendwohngemeinschaften, in der Bewährungshilfe, kurzfristig in einem Kinderbetreuungsprojekt und dann war ich 20 Jahre lang bei den Salzburger Landeskliniken tätig; erst in einer psychiatrischen Abteilung, dann zuletzt in der Abteilung für psychosomatische Medizin am Klinikum Salzburg.
Frage: Nach Ihrer Pension folgte das Engagement bei Ärzte ohne Grenzen. Warum?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Mir hat sich die Frage gestellt: Was mache ich, wenn ich in Pension gehe? Nachdem ich meinen tollen Arbeitsplatz an eine junge Kollegin übergeben habe, wollte ich noch einmal die Möglichkeit zu haben, etwas ganz Neues zu machen - meine berufliche Erfahrung in Regionen einzubringen, in denen die Menschen psychologische Unterstützung noch dringender brauchen als bei uns.
Frage: Ihr erster Einsatz ging dann 2014 nach Pakistan. Wie war es für Sie?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Es war sehr, sehr spannend, erstmals in völlig neuer Kultur zu arbeiten. Meine Aufgabe als Psychologin vor Ort ist ja meist der Aufbau oder die Weiterentwicklung von Projekten zur psychosozialen Unterstützung der Menschen. Es geht um die Rekrutierung von psychosozialen BeraterInnen vor Ort, Teammanagement, Fortbildungen, Supervisionen, die Zusammenarbeit mit medizinischen Teams, fachliche Weiterbildungen, Evaluierungen der Projekte. Es war und ist sehr faszinierend für mich, mit den lokalen KollegInnen und Teams zu arbeiten, gerade auch, weil in einigen Ländern die Psychologie ja etwas ganz Neues ist.
Frage: Haben Sie dafür Beispiele?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Im Irak gibt es beispielsweise PsychologInnen im Land, aber das Psychologiestudium ist dort mehr ein Studium der Erziehungswissenschaften. Über psychische Störungen lernen Studierende im Studium nichts. Eine klinische Psychologie ist daher eigentlich nicht vorhanden. In Sierra Leone gibt es beispielsweise nicht einmal die Möglichkeit für ein Psychologie-Studium.
Frage: Auch für Betroffene werden PsychologInnen und psychologische Angebote dann etwas völlig Fremdartiges sein.
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Es arbeiten in jedem Land GesundheitsaufklärerInnen, die Bewusstsein für die Angebote von Ärzte ohne Grenzen schaffen. Auch psychosoziale Beratung ist davon ja ein wichtiger Bestandteil. Mit der Information steigt dann auch schnell das Verständnis der Betroffenen und die Angebote werden angenommen. Auf Lesbos war es dagegen ganz anders: Ich war bis Mai 2018 ein halbes Jahr in dem griechischen Flüchtlingslager Moria, in dem das psychische Leid der Menschen so groß ist, dass wir regelrecht überrannt wurden und wir die Zuweisungen am Ende sogar stoppen mussten.
Frage: Unterscheiden sich die psychischen Belastungen der Menschen in den Ländern, in denen Sie bisher gearbeitet haben?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Ja, sie sind anders. Auf Lesbos konnten wir nur mehr PatientInnen mit den schwersten psychischen Störungen aufnehmen. Solche die unter posttraumatischen Belastungsstörungen, unter akuten psychotischen Symptomen litten oder akut suizidal waren. Auch im Irak habe ich in einem Traumahospital gearbeitet, in dem Menschen, die aus Mossul geflohen waren, mit teils schweren Verletzungen untergebracht waren. Diese Menschen waren aber zum Großteil in einer besseren psychischen Verfassung als die Menschen auf Lesbos.
Frage: Wie erklären Sie sich das?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Im Irak haben sich die Menschen in Sicherheit gefühlt, sie hatten Kontakt und Zugang zu ihren Familien, die Camps waren in einem besseren Zustand. Auf Lesbos haben die Menschen alle Hoffnung verloren. Es sind die menschenunwürdigen Lebensbedingungen, unter denen die Menschen bewusst psychisch krank gemacht werden. Dass so etwas mitten in Europa passiert und auch noch weitere Camps in Planung sind, ist nur schwer zu ertragen.
Frage: Wie kann man Menschen in solch unsicheren Lebenssituationen als PsychologIn überhaupt helfen?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Wir haben uns bereits am Anfang die Frage gestellt: Was können wir erreichen, wenn wir die Bedingungen nicht ändern können? Natürlich ist keine Traumatherapie in dem Sinne möglich, aber wir können bestmöglich stabilisieren, bei Bewältigungsmöglichkeiten unterstützen. Das ist uns meiner Meinung nach auch ganz gut gelungen.
Frage: Vermissen Sie etwas während Ihrer Projekte im Ausland am meisten?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Ich vermisse meine Familie, FreundInnen und Bekannte immer sehr, meine bequeme Wohnung. Aber in internationalen Teams mit Menschen aus der ganzen Welt zu arbeiten, ist eine ungeheure Bereicherung.
Frage: Wissen Sie schon, in welchem Land Ihr nächstes Projekt stattfinden wird?
Dr. in Monika Gattinger-Holböck: Nein, derzeit noch nicht. Ich denke, dass ich im Herbst wieder auf Einsatz gehen werde. Wo es aber genau hingeht, ist dann meist eher spontan.
Ärzte ohne Grenzen ist immer auf der Suche nach EinsatzmitarbeiterInnen, bei Interesse: www.aerzte-ohne-grenzen.at/einsatzmitarbeit.
Das Interview führte Dana M. Müllejans, MA.